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18 | Vitales Nordhessen – eine Region für die Gesundheit Vital und gesund Wenn die Seele sich zurückzieht Im Interview spricht Pfarrer Hans Stolp über einen anderen Umgang mit Demenz Heute gibt es über eine Million Alzheimerpatienten in Deutschland. Jährlich kommen über 200 000 neue hinzu mit steigender Tendenz. Was empfinden Sie bei diesen Zahlen? Ich denke nicht in Zahlen, sondern an die Menschen. Ich habe die Ängste von Demenzkranken miterlebt und mit Schmerz wahrgenommen, wie ihre Augen immer leerer wurden. Ich habe ebenfalls mit tiefer Bewunderung gesehen, wie ihre Angehörigen sie versorgen: Tag für Tag eine nicht endende Betreuung, mit so viele Liebe und Geduld. Aber ich musste auch feststellen, dass viele Menschen, die nicht mit Demenz konfrontiert sind, lieber nicht darüber reden und sich von Demenzkranken fernhalten. Deshalb sind die Betroffenen und ihre Angehörigen oft so einsam. Es ist höchste Zeit, offen über diese Krankheit zu sprechen. Das Ende bei Alzheimer ist unabwendbar. Welchen Trost kann man spenden? Krankheit ist niemals sinnlos. Sie ermöglicht im Verborgenen, Dinge zu verarbeiten, die ihnen im Leben schwer gefallen sind. Für andere unsichtbare Schmerzen oder verdeckten Kummer, der unausgesprochen blieb. Der Kranke bekommt Zeit, alle seine dunklen, vergrabenen Gefühle zu verarbeiten und loszulassen. Dadurch kann er als ein Mensch sterben, der von innen geheilt wurde und der befreit ein neues Leben in der geistigen Welt beginnen kann. Was sind das für vergrabene Gefühle, die hochkommen? Denken Sie an Kriegstraumata, oder an eine Mutter, die nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes kaum Zeit hat, ihre Trauer zu verarbeiten, da sie sich um die Kindern kümmern muss, oder an vergewaltigte Kinder, die sich nie jemanden anvertraut haben. Demente verlieren die Fähigkeit, schreckliche Erinnerungen in sich zu vergraben. Diese Steuerung geht verloren, unterdrückte Emotionen kommen ungefiltert hoch. Diese können sich in Weinen, starker Wut oder großer Ruhelosigkeit äußern. Für die Betreuer ist es hilfreich zu wissen, dass Demente mit ihrem Verhalten alte Emotionen verarbeiten und dass ihr Verhalten keine Reaktion auf die aktuelle Situation ist. Der schleichende Verlust der Identität erscheint Menschen schwerer als körperliche Gebrechen. Verstehen Sie als Pfarrer, wenn Betroffenen nach der Diagnose Selbstmord begehen? Selbstverständlich kann ich das verstehen. besonders wenn man nicht weiß, dass es nach dem Tod ein neues Leben gibt, erscheint die Krankheit sinnlos. Und warum sollte man sinnloses Leiden verlängern? Wenn man aber weiß, dass diese Krankheit nicht sinnlos ist, sondern einen geistigen Gewinn bringen kann, wird man nicht so leicht den Freitod wählen. Elisabeth Kübler-Ross, die weltberühmte Sterbeforscherin, hat am Ende ihres Lebens, als sie von Gehirnblutungen betroffen war, keinen Freitod gewählt. Sie sagte: Ich weiß, was diese Krankheit mich lehren will: Hingabe und Abhängigkeit, und das sind für mich die schwierigsten und zugleich notwendigsten Lektionen. Der Verlust von Fähigkeiten erfolgt nach und nach und belastet die Betroffenen. Wie kann man therapeutisch begleiten? Das Denken wird schwieriger und auch das Bewusstsein, wer und wo man ist, verschwindet. Die Fähigkeit aber, kreativ mit Farben, Formen und Klängen zu spielen, bleibt noch lange intakt. Diese Kreativität sollte man fördern. Viele Menschen agieren eindimensional und haben sich nur rationell weiterentwickelt. Ihre Kreativität ist zurückgeblieben. Am Ende des Lebens sollte wieder ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Begabungen hergestellt werden. Aktuelle Studien dokumentieren, dass die Erkrankung an Alzheimer auch mit unserer Lebensführung zu tun hat. Bewusst essen und bewusst leben – beides hilft Demenz vorzubeugen. Was viele auch leider nicht wissen, ist, dass Kinder, die vor dem siebten Lebensjahr viel zu früh gezwungen waren, ihr Denken, ihre Ratio zu entwickeln, später eher Gefahr laufen, demenzkrank zu werden. Das sollte man im Unterricht berücksichtigen und die kindliche kreative und rationale Seite gleichermaßen in der Erziehung und im Unterricht fördern. Wo ist das Individuum, wenn das Hirn zerfressen, Gedanken und Gefühle ganz wirr sind und der Mensch ohne Ist-Bewusstsein ist? Der Mensch ist mehr als sein Gehirn. Er hat ein Bewusstsein, das auch unabhängig vom Gehirn wirkt. Denken Sie zum Beispiel an Menschen, die im Koma gelegen haben und trotzdem alles gehört haben, was Ärzte und Angehörige um sie herum gesagt haben. Sie waren nur nicht in der Lage sich zu äußern, denn das Instrument, ihr Körper, war krank. Demenzkranke sind nicht verrückt, ihr Bewusstsein ist völlig in Ordnung. Nur fehlt ihnen in zunehmendem Maße das Instrument, um klar zu machen, was sie denken und wollen. Sie stehen sozusagen, vergleichbar mit Komapatienten, halbwegs außerhalb ihres Körpers. Sie sagen, dass auch bei Dementen geistiges Wachstum erfolgen kann. Das ist schwer vorstellbar. Wie bereits erwähnt, können Demenzkranke wieder mehr Gleichgewicht zwischen ihren verschiedenen Begabungen herstellen und während ihrer Krankheit im Inneren Vergrabenes nach und nach aufarbeiten. Dadurch können sie ohne schwere emotionale Lasten in den Tod gehen, können frei hinüber in die geistige Welt übertreten und ein nächstes Leben ohne Bürde beginnen. Pfarrer Hans Stolp


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