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Gesundheit und mehr Wohlbefinden

Macht Euch entbehrlich

Dr. Lutz Gruhl im Gespräch über Hilfe zur Selbsthilfe in Indien
Dr. Lutz Gruhl im Gespräch mit Chefredakteurin Helga Kristina Kothe. Der Kasseler Mediziner engagiert sich für den Verein Interplast in Indien. Foto: Mario ZgollSeit 2003 war er jedes Jahr in Kodaikanal, einer Bergregion in Indien. Dr. Lutz Gruhl, plastischer Chirurg aus Kassel, hat dort mit Kollegen aus ganz Deutschland mehr als 1000 Operationen vorgenommen: Schwer vernarbte Brandverletzungen, schlimme Missbildungen und entstellende Gesichtstumore haben sie operiert – und dabei den indischen Kollegen gezeigt, wie solche Eingriffe gemacht werden. „Die Menschen in dieser abgelegen Gegend sind medizinisch völlig unterversorgt, brauchen dringend Hilfe“, sagt Gruhl. Seit 22 Jahren arbeitet er für den Verein Interplast Germany, dessen Ärzte kostenlos plastische Operationen in Entwicklungsländern vornehmen. Eine sinnvolle Aufgabe: „Menschen in Indien, die mit körperlichen Fehlern geboren werden, werden aus der Gesellschaft ausgeschlossen.“ Ohne das Engagement der Ärzte könnten sie sich diese Operationen gar nicht leisten. Rund 2500 Mal hat er seit 1992 operiert, im Urlaub. Jedes Jahr ist er zwei Wochen in Indien, einige Male war er auch auf Madagaskar. Vor mehr als 35 Jahren engagierte sich Gruhl erstmals in der Entwicklungshilfe. Seitdem lautet sein Motto: „Macht euch entbehrlich“. Das hat er in Kodaikanal jetzt geschafft: „Das Projekt steht vor dem Abschluss.“ Drei Chirurgen und zwei Pflegekräfte können künftig plastische Operationen vornehmen. Seit Jahren setzt er sich für die Qualifizierung seiner indischen Kollegen ein. „Unser Ziel war dabei immer die Hilfe zur Selbsthilfe.“

Das indische Ärzteteam war von Beginn an eingebunden: „Sie haben viel und schnell gelernt, waren mit großem Engagement dabei. Jetzt können sie eigenverantwortlich arbeiten und bilden selbst aus.“ Aber es sei nicht nur die Qualifikation, die wichtig ist. „Es ging uns auch darum, die Ärzte vor Ort zu motivieren, Charity-Arbeit zu leisten.“ Es gebe dort gute Ärzte, aber es müsse auch die Bereitschaft da sein, mittellosen Menschen zu helfen. Wie so vieles in seinem Leben hat sich auch das Engagement für Interplast „einfach so ergeben“. Als er 1992 von einem holländischen Kollegen gefragt wurde, ob er auch in Asien helfen wolle, war es für ihn selbstverständlich, Ja zu sagen. Denn schon zuvor war Gruhl mit 27 Jahren nach Afrika gegangen, nach Ruanda. Von 1977 bis 1982 leitete er dort ein Missionskrankenhaus. Eine Zeit, die er in guter Erinnerung hat. Von dort hat er auch seinen ältesten Sohn mitgebracht. Philippe, ein Findelkind aus dem Urwald, hat er gemeinsam mit seiner damaligen Frau adoptiert. Dr. Lutz Gruhl ist neugierig, weltoffen und lebensfroh. Warum also ausgerechnet Ruanda? Ein Land, das von Kolonialherren und Bürgerkriegen geprägt ist. „Ich stamme aus der 68er-Generation, war auch ein bisschen politisch motiviert, und es war auch ganz sicher Abenteuerlust und die Lust zu reisen, die mich gelockt haben“, sagt er. Und nicht zuletzt wollte er mit seiner Frau, einer Portugiesin, „die hier kulturell ein wenig entwurzelt war, auf neutralem Boden leben.“ Deshalb wollte er eigentlich nach Peru. Doch aus dem Projekt ist nichts geworden. So stand er vor der Entscheidung: die Sachen wieder auspacken oder nach Ruanda starten.

Die Arbeit in Entwicklungshilfeländern wie Ruanda oder Indien ist anspruchsvoll und vielseitig. Und manchmal gleicht sie einem Abenteuer. Das kleine Interplast-Team in Kodaikanal behandelt Opfer mit Verbrennungen durch Kerosin oder nach Attentaten mit Säure, mit angeborenen Missbildungen wie einem Wolfsrachen oder mit Tumoren im Gesicht. „Der Hauptteil der Patienten leidet unter schweren Verbrennungen“, berichtet Gruhl. Mitgift-Morde seien in Indien leider keine Seltenheit. Die meisten der Opfer, etwa 80 Prozent, schätzt Gruhl, sterben an den Folgen. „Die Frauen haben unter schrecklichen Entstellungen zu leiden.“ Für ihn ist das, was dort passiert, „schwer verständlich“. Er berichtet: „Die Polizei ist korrumpiert und tut nichts.“ Die ausländischen Mediziner versuchen, diesen Frauen mithilfe der bestmöglichen medizinischen Versorgung „den Weg zurück in die Gesellschaft zu ebnen und ihnen ihre Würde wiederzugeben. Sie von ihren Entstellungen zu befreien, so dass sie sich der Öffentlichkeit wieder zeigen können und gleichzeitig ihre Funktionen wieder herzustellen, so dass sie Arbeit aufnehmen können und den sozialen Wiedereinstieg schaffen.“ Obwohl er zu Interplast Ja gesagt hat, war er zunächst skeptisch: „Kann man in zwei Wochen wirklich viel bewegen?“ Heute sagt er: „Auf jeden Fall.“ Innerhalb von 14 Tagen absolviert er mit seinem Team ein straffes Programm – rund 100 Operationen, täglich zwölf Stunden im Einsatz. „Große Eingriffe“, wie er betont. Die Arbeit ist anstrengend: Hygiene und Klima erschweren sie ebenso wie die einfachen Bedingungen. „Stromausfälle sind keine Seltenheit“, sagt er. Dann müsse man halt mit Taschenlampen weiter arbeiten.

Die Interplast-Einsätze werden aus Spenden finanziert. Jeder Einsatz kostet zwischen 15 000 und 20 000 Euro. Gruhl sammelt selbst Spenden, hält viele Vorträge, nutzt Kontakte. Zwischen 400 und 500 Kilogramm Gepäck müssen auf jeder Reise mit. „Es ist schwierig, das Material in die entlegenen Regionen zu bringen.“ Seitdem sein Team an einem Ort sei, sei vieles leichter geworden: „Wir sind dort gut eingerichtet, haben vieles da, was wir brauchen.“ Dr. Lutz Guhl hat in 35 Jahren vieles gesehen. Auf die Frage nach einem Bild, das für immer bleiben wird, antwortet er: „Ich habe auf Madagaskar ein Kind an Wundstarrkrampf sterben sehen.“ Ein Kind – bettelarm, das barfuß umher lief und in eine Dorne getreten ist. „Plötzlich bekam es Krämpfe. Nach einer Stunde war es tot. Wir haben nichts tun können, obwohl wir ein Team hochqualifizierter Ärzte waren. Wir konnten nicht helfen, weil es kein Serum gab. “Trotzdem – Gruhl hat vieles erreicht, vielen Menschen geholfen. Er ist 65 Jahre alt – und wird seiner Einsätze nicht müde. „Das Engagement hält wach“, sagt er. „Ich schöpfe Glück daraus. Die Arbeit macht demütiger und gelassener.“ Und auch die Dankbarkeit der Patienten fühle sich gut an. Seine freie Zeit weiß er sehr zu schätzen, verbringt sie in der Natur und seinem Garten, wo wunderschöne Rosen wachsen. Ans Aufhören denkt er noch nicht: „Ich mache weiter, so lange es mir Freude macht.“

(Foto: Mario Zgoll)

 

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